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Ein selbstbestimmtes Leben – auch ohne Hände und Füße

Er arbeitet im Finanzamt, fährt einen VW-Bus und hat schon etliche Länder in Europa bereist. Matthias Krasa erledigt alles mit Arm- und Beinstümpfen, denn der 54-Jährige wurde ohne Unterarme und Unterschenkel geboren.

von Susanne Karkossa-Schwarz, Eckernförder Zeitung

Matthias Krasa in seinem Rollstuhl auf einer Terasse.
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  • Aus dem Verband

Ein Einfamilienhaus in Schwedeneck mit Terrasse, die aufgrund einer Schwelle unbenutzt bleibt, und einer Rampe, die von der Grundstückszufahrt zur Haustür führt. Matthias Krasa öffnet mir die Terrassentür - wir sind für ein Gespräch verabredet.

Ich kenne ihn flüchtig von früher. 2002 ist er in die Gemeinde Schwedeneck gezogen. Meine Kinder, das jüngste war vier Jahre alt, waren wie alle Kinder anfangs äußerst interessiert an seiner Erscheinung. Zu ungewöhnlich und einzigartig war sie in unserem kleinen Dorf - ein Mensch ohne Hände und Füße. Und nicht nur die Kinder, auch wir Erwachsenen haben ihm anfangs sehr hinterhergeguckt. Hat ihn das gestört? Und wie geht es ihm heute?

Matthias Krasa lacht: „Ich bin von Geburt an behindert, ich kenne das nicht anders. Als Kind habe ich mir gesagt: Ich bin normal, die anderen sind nicht normal.“ Er wurde 1968 als das mittlere von drei Kindern geboren und wuchs in Strande auf. Die Ursache seiner körperlichen Behinderung ist bis heute unbekannt. Vor allem als Heranwachsender habe er nach Ursachen gesucht. So wurden seinen Recherchen nach 1968 vier weitere Kinder mit der gleichen Behinderung geboren, alle haben das erste Lebensjahr nicht überlebt.

Fest steht nur, dass seine Mutter während der Schwangerschaft keinerlei Medikamente genommen hat. Überhaupt seien seine Eltern immer offen mit dem Thema umgegangen, ihm selbst und auch anderen Menschen gegenüber, so Krasa. „Meine Eltern haben mir als Kind alle Freiheiten gegeben und mich nicht eingeschüchtert oder dergleichen.“

Ich treffe Matthias im Elektrorollstuhl an, den er ansonsten nur für draußen verwendet. Der andere Rollstuhl steht unbenutzt im Flur. Der Grund: Auf der Rücktour von Surendorf nach Dänisch-Nienhof hatte er vor einigen Wochen einen Unfall, bei dem er sich die Hüfte gebrochen hat. Er soll sich schonen, so die Ärzte. Als Berater für Menschen mit Behinderung der Gemeinde Schwedeneck ist Krasa nicht nur beruflich, sondern auch privat viel auf Ausschüssen und Gemeindevertretersitzungen unterwegs. Seine Expertise ist gefragt.

Vor 20 Jahren hat der damals 34-Jährige die Wohnung im Erdgeschoss eines Einfamilienhauses mit drei Zimmern, Küche und Bad bezogen. „Das ist meine Wohnung!“ Matthias Krasa bevorzugt ein eigenständiges Leben, Jammern und Klagen sind nicht sein Ding. Sein Leben ist lösungs- und zielorientiert ausgerichtet. Eine selbstbestimmte Assistenz unterstützt ihn dabei.

Konkret heißt das: Drei Assistenten, deren Stunden auf zwei Vollzeitstellen verteilt sind, sind bis zu elf Stunden täglich bei ihm. „Sie ersetzen meine Hände und Füße und helfen mir so, wie ich Hilfe brauche.“ Das beginnt mit der Körperpflege und Haushaltstätigkeiten wie Putzen und Aufräumen und endet mit Reisen durch Kroatien, Spanien, Frankreich und Italien.

Unterwegs sind Krasa und seine Begleitung mit seinem Bus samt Wohnwagen. Wie fährt er den Bus? „Wie du auch Auto fährst. Ich fahre den Bus mit Händen und Füßen.“ Der umgebaute VW-Bus verfügt über Automatik, am Lenkrad ist eine Art Tasse für seinen Arm angebracht, das Gaspedal ist mit einer Stange verlängert, mittels einer Hebebühne steigt der 54-Jährige ins Auto.

30.000 Kilometer fährt er im Jahr mit dem Bus - und das seit 30 Jahren. „Autofahren, wann ich möchte, bedeutet für mich ein großes Stück Freiheit“, so Matthias Krasa. Dass er einmal einen Führerschein haben würde, war damals für einen Aussteller auf einer Reha-Messe absolut jenseits der Realität: „Mit Ihrer Behinderung werden Sie niemals Auto fahren können!“

„Behinderte werden oft gemobbt. Ein Behinderter ist der Fremde, das unbekannte Wesen“, sagt er. Deswegen sei er damals, als er neu in der Gemeinde Schwedeneck war, überall hingerollt, zu jedem Dorffest gefahren und habe die Leute angesprochen. Der Durchbruch kam mit der Eröffnung des Tante Emma-Ladens in Dänisch-Nienhof. „Damals gab es noch keine Rampe. Die Leute wollten mich hochheben, das habe ich abgelehnt. Da wurde die Rampe gebaut.“

Und heute? Ja, viele Dinge seien deutlich besser geworden, zum Beispiel Verständnis und Akzeptanz in der Gesellschaft: „Die Leute laufen nicht mehr gegen den Laternenpfahl, wenn Sie mich sehen.“ In den vergangenen Jahren sei viel in Sachen Barrierefreiheit und Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft geschehen. Aber es gebe einen Haken. „Wir haben im Laufe der Zeit zwar mehr behindertengerechte Gesetze bekommen“, sagt der Schwedenecker, „das Problem ist die Umsetzung. Oft hat es nur wenig Konsequenzen, wenn die Gesetze nicht eingehalten werden.“

Matthias Krasa ist als Vertreter des Landes Schleswig-Holstein Mitglied im Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e. V. Gerade in der Hochphase der Corona-Pandemie, als persönliche Beratungen und Treffen nicht möglich waren, sei es auch für ihn schwer gewesen. „Für mich persönlich war es eine absolute Katastrophe“. Das Internet brach oft zusammen, Homeoffice war nicht möglich, soziale Kontakte im Dorf fielen weg.

Für behinderte Menschen, die sowieso schon isolierter leben als die normalen, sei die Corona-Pandemie ein echter Einschlag gewesen, so Krasa. Auch die Arbeit des Bundesvorstandes der Selbsthilfe hat darunter gelitten. Einige Mitglieder sind ausgetreten. „Virtuelle Konferenzen bringen nichts. Es fehlen die nonverbale Kommunikation und der Pausenschnack.“

Was wünscht sich Matthias Krasa für die Zukunft? Politisch: „Menschen, die von Geburt an behindert sind, sollen eine Grundrente bekommen. Das ist eine wichtige finanzielle Entlastung für die Eltern.“ Nach seinen Erfahrungen durch den Unfall, der anschließenden Hüft-Operation und Pflege plädiert er auch für eigene Stationen in den Kliniken, die auf die optimale Versorgung Behinderter spezialisiert sind - auch wenn in dem Moment der Inklusionsgedanke beiseite geschoben wird. Erfahrungsberichte anderer Körperbehinderter bestärken ihn in dieser Einsicht. Es gebe ja auch Spezialabteilungen für Kinder und alte Menschen, so Krasa.

„Die medizinischen Standards passen nicht zu Menschen mit Behinderungen.“ Ärzte und Pflegepersonal seien nicht für die Besonderheiten Körperbehinderter geschult. Allein das Blutabnehmen bei ihm sei für die Pflegekraft ein Problem gewesen, da das am Arm ja nicht möglich sei. „Ich musste ihr sagen, dass sie es am Hals machen sollte.“

Private Wünsche? „Ich hätte gern eine Partnerin gehabt.“ Es geht Matthias Krasa nicht um soziale Kontakte - die hat er genug. Auch kann er gut allein leben. „Aber ich vermisse die Zweisamkeit.“ 

Foto:Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag/Eckernförder Zeitung