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„Vier Hände können jemanden tragen“

Anita Reichert-Klemm ist seit 30 Jahre im Einsatz für Barrierefreiheit und Teilhabe

Im Kindergarten sollte Anitas Tochter, zu dieser Zeit selbst Rollstuhl-Nutzerin, einst ein Bild malen. Sie wählte nicht Sonne, Haus oder Blumen, sondern die verschlungenen Hände des BSK-Logos. Auf die Frage der Erzieherin, warum ausgerechnet dieses Motiv, sagte sie: „Vier Hände können jemanden tragen. Und die halten auch fest zusammen.“ Für Anita Reichert-Klemm ist dieser Satz seitdem Kompass, Motivation und leiser Antrieb – in einem Ehrenamt, das längst zu einem Lebenswerk geworden ist.

Ein Foto als Startschuss beim BSK

1995 kam Anita eher zufällig zum Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. (BSK). „Der Kontaktstellenleiter aus Kinheim fragte, ob ich mal bei einem Info-Stand vorbeischauen möchte. Dort machten wir ein gemeinsames Foto. Einige Wochen später bekam ich einen Zettel mit diesem Foto zum Unterschreiben – meinen Kandidatenvorschlag für die Delegiertenversammlung. Das sei ja nur einmal im Jahr.

Doch schon ihre erste Delegiertenversammlung brachte einen Schock. „Da stand ich als junge Frau mit dickem Aktenordner, perfekt vorbereitet. Dann sagte man mir: 30 % Behinderung reichen nicht aus, um Stimmrecht zu haben. Das war wie ein Schlag.“ Mit Unterstützung einiger BSK-Mitglieder wurde später die Satzung geändert – fortan konnten nicht nur Schwerbehinderte vollwertige BSK-Mitglieder werden.

Diskriminierung als Türöffner

Ihr Engagement bekam eine sehr persönliche Dimension, als ihre Tochter nach einem Autounfall im Kindergartenalter in den Rollstuhl kam. „Seit ich mit Rollstuhl-Kind unterwegs war, hat mir niemand mehr die Tür aufgehalten. Das war für mich ein absolutes Unding. Also musste ich etwas tun.“

In diesem Moment schrieb sie sich Aufklärung und Sensibilisierung für die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen auf die Fahne – ein Grundsatz, der bis heute ihr Handeln prägt.

1996 folgten erste Anläufe zur Gründung des BSK-Bereichs Mittelmosel. Die Umsetzung war schwierig, also übernahm Anita zunächst die Kontaktstelle in Kinheim und später auch die Landesvertretung Rheinland-Pfalz. Gemeinsam mit dem engagierten BSK-Geschäftsführer Robert Keppner wurde ein kleines Haus renoviert, ein Treffpunkt für den Bereich geschaffen. Los ging es mit zwei Mitgliedern – dann ist der Bereich stetig gewachsen.

Da das Haus in Kinheim leider nicht barrierefrei war, folgte schnellstmöglich der Umzug nach Brauneberg, wo der Bereich bis heute seinen Vereinssitz hat. Doch schnell zeigte sich: Die größten Hindernisse lagen nicht nur in Gebäuden, sondern schon davor. Viele Menschen kamen nicht einmal von zu Hause weg, weil es keinen barrierefreien Fahrdienst gab. Über ein Sponsoring konnte schließlich ein Fahrzeug angeschafft werden. Parallel kümmerte sich Anita darum, dass genügend barrierefreie Parkplätze geschaffen wurden – mit starker Unterstützung des damaligen Verbandsbürgermeisters.

Doch damit nicht genug: Die notwendige Fahrzeug-Rampe finanzierte Anita aus eigener Tasche. „Ich habe meine Lebensversicherung als Sicherheit hinterlegt. So viel hat es mir bedeutet, dass Menschen mit Behinderung mobil sein und teilhaben können. Und ich würde es jederzeit wieder tun.“ Sie absolvierte eine IHK-Schulung zur Personenbeförderung, beantragte eine Taxi-Lizenz und fuhr bis vor Kurzem BSK-Mitglieder selbst zu Ärzten, in die Reha oder zu Veranstaltungen.

Anita Reichert-Klemm, „die Toiletten-Frau“

Parallel dazu setzte sie sich in Brauneburg dafür ein, dass unnötige Stufen verschwinden und barrierefreie Toiletten eingerichtet werden. Ihr Einsatz brachte ihr den Spitznamen „Die Toiletten-Frau“ ein – sehr zum Leidwesen ihrer Kinder. Doch eines Tages, auf einer Fahrt nach Föhr, entdeckten die Kinder an einem Rastplatz eine Behindertentoilette. „Schau mal Mama, hier gibt es ein normales Klo“, sagten sie. – „Ich war selten so stolz“, erinnert sich Anita Reichert-Klemm.

Ihre erste 5.-Mai-Demo organisierte Anita Reichert-Klemm leider ohne Genehmigung und musste absagen. Im Jahr darauf mobilisierte sie bereits über 200 Menschen, die für Inklusion und Teilhabe auf die Straße gingen. „Das ist ein unbeschreibliches Gefühl.“

Ein wichtiges Projekt wurde die Broschüre „Barrierefreie Region Mittelmosel“, in der ausschließlich wirklich barrierefreie Gebäude und Angebote gelistet waren. Sie hatte enorme Reichweite – und motivierte viele, selbst Barrieren abzubauen. „Ich habe Politiker sicher auch genervt. Oft hieß es: Jetzt hast du am Platz xy eine Barriere weniger und willst schon wieder etwas. Aber Ruhe geben? Niemals – erst, wenn ich mit Freunden und Familie überall hinkomme.“

Nach einigen Jahren in der Delegiertenversammlung wurde Anita Reichert-Klemm im Jahr 2006 in den BSK-Bundesvorstand gewählt – ein Amt, das sie bis heute innehat. Eines ihrer Steckenpferde sind Messe-Auftritte, bei denen der BSK mit umfassendem Beratungs- und Teilhabeangebot präsent ist.

Erfolge, Auszeichnungen, persönliche Opfer für das große Ganze

Für ihre Region hat Anita viel erreicht: zahlreiche barrierefreie Gebäude und Freizeitangebote, langjährige Boccia-Gruppen, eine Kooperation mit der Lehnen GmbH für barrierefreie Bad-Ausstattungen, Ferienfreizeiten für behinderte und sozial benachteiligte Kinder. In den späten 90ern und frühen 2000er-Jahren organisierte sie sogar Zivildienstleistende für den Verein, mit deren Hilfe mehrere Jahre lang Ferienfreizeiten in einer barrierefreien Hütte in der Eifel stattfanden.

Für ihr großes Engagement erhielt sie nicht nur den lokalen Respektpreis (2015), sondern auch die Staatsmedaille (2003). „Diese Auszeichnungen haben mir erstmal so richtig bewusstgemacht: Wir sind in Sachen Barrierefreiheit und Teilhabe auf dem richtigen Weg. Das war ein tolles Gefühl.“

Doch all das hatte seinen Preis. „Meine Familie hat mich kaum gesehen: Ich bin morgens ins Bereichs-Büro gefahren, habe mittags schnell die Kinder geholt, gekocht und bin dann wieder ins Büro.“ Trotzdem würde sie nichts anders machen wollen.

Geht nicht, gibt’s nicht

Ein Motto zieht sich durch all ihre Jahre im Ehrenamt: „Geht nicht, gibt’s nicht.“ Probleme sieht sie nicht als Hindernis, sondern als Auftrag, Lösungen zu finden – immer auf Augenhöhe, wie es die Vision von Eduard Knoll war. „Es geht darum, Menschen zu sensibilisieren – wenn nötig auch mit Nachdruck.“

2014 wurde Anita Reichert-Klemm in ihrem Wohnort zur Ortsvorsteherin gewählt. Innerhalb weniger Monate hatte sie ein komplett barrierefreies Bürgerhaus mit Behindertentoilette. „Für so ein kleines Nest ist das einfach riesig. Da hat sich mein politisches Engagement nochmal richtig gelohnt.“

Und wenn Anita heute zurückblickt, weiß sie, dass ihr Einsatz noch lange nicht vorbei ist. Der Satz ihrer Tochter aus Kindertagen begleitet sie dabei wie am ersten Tag: „Vier Hände können jemanden tragen. Und die halten auch fest zusammen.“